Morgen ist auch noch ein Tag
Mut zu mehr Müßiggang
Die 90er waren echt ein hartes Pflaster. Ich stand kurz vor der Pubertät, hatte tierische Angst vor dem Stimmbruch und den vielen Pickeln im Gesicht. Währenddessen hörte ich billigen Eurodance abwechselnd mit dem, was der Kommerz von Grunge noch übrig gelassen hatte und fand „Load“ von Metallica richtig krass. Dazu trug ich T-Shirts, die mir heute immer noch zu groß sind und versuchte, jeden Kleidungsstil mindestens einmal schlecht nachzuahmen. Doch Vorsicht, dabei bloß nicht zu sehr aus der Reihe fallen, der Spott auf dem Schulhof in der großen Pause hätte traumatische Nachwirkungen gehabt, weswegen ich mich nie an grün oder rot gefärbte Haare getraut habe. Das Leben zwischen 11 und 16 war ein Balanceakt.
Das Dumme war außerdem, dass ab dieser Zeit Entscheidungen langsam selbst getroffen werden mussten: keine Mutti mehr, die einem alles abnimmt. Besser wär‘s gewesen, ich hätte meine Klamotten jeden Morgen noch über den Stuhl gelegt bekommen, es hätte mir die ein oder andere geschmackliche Entgleisung erspart. Oder weiterhin das Pausenbrot geschmiert bekommen, statt sich vom Taschengeld mit Hilfe zu vieler Süßigkeiten die ersten Karies einzufangen.
In dieser Zeit, in der man scheinbar nur bedingt zurechnungsfähig war, fallen dann auch die größten Fehler, die man jetzt – knapp doppelt so alt – gerne revidieren würde. Und ich schweige ganz bewusst zum Thema der zweiten große Liebe nach der Sandkastenbeziehung. Nein, es geht ums Elementare fürs weitere Leben: Bildung. Gerne würde ich mal wissen, was mich damals geritten hat, Latein als zweite Fremdsprache zu wählen. Klar, ich habe das gewählt, was die besten Kumpels auch machten, aber eine gute Entscheidung war das trotzdem nicht. Oder der Leistungskurs in Mathematik, der sich als freiwilliger Gang in die Hölle entpuppte. Ganz zu schweigen vom Schwänzen der ohnehin raren Kurse zur Berufsvorbereitung, man hatte ja schließlich Besseres zu tun. Was auch immer das war.
Das Ergebnis war dann zwar ein bestandenes Abitur, doch das Wirrwarr wurde dann auf eine noch höhere Stufe gestellt, schließlich fragte jetzt jeder im engen und weiten Umfeld gefühlt alle fünf Minuten, was man denn jetzt so machen würde. Ja, keine Ahnung! Erstmal studieren! Warum? Na, weil der beste Kumpel das auch macht. Und was? Das was im Ausschlussverfahren übrig bleibt. Es ist verrückt, da geht man zwölf Jahre zur Schule, kennt sich bestenfalls bereits 18 Jahre selbst und dann sitzt man panisch über einem dicken Heft, in dem 5.000 Studiengänge scheinbar wahllos gelistet sind und das große Eiern geht wieder von vorne los. Wie schön waren doch die alten Zeiten, als schon weit vor der Geburt klar war, dass man in Papas Fußstapfen treten muss. Und die Fußstapfen von Opa, Uropa und dem Ururopa. Das hatte was Beständiges und Beruhigendes.
Doch die Zeiten heute sind nicht besser. Im Gegenteil. Ich meine, das war ja im Jahr 2000 schon der SuperGAU der Entscheidungsfähigkeit. Aber heute will ich auch keine 18 mehr sein. Turboabi, Schmalspurstudium in bestenfalls sechs Semestern – inklusive zweier Praktika in renommierten DAX-Konzernen, Auslandsaufenthalt, Erasmus, ehrenamtliches Engagement, Pipapo. Alles Pflichtprogramm. Hinzu kommen die täglichen Vergleiche mit Mitstudenten, die vielmehr alle Konkurrenten sind und von allem immer wesentlich mehr machen als man selbst: Noch bessere Noten haben als die 1,3, im zweiten Semester vorsorglich schon mal die Bewerbungen für die Unternehmensberatung fertigschreiben und noch ein kostenloses Praktikum mehr absolvieren. Kontakte sammeln und so.
Das Ergebnis und die Folgen sind gruselig. Lebensläufe werden austauschbar, Dinge nur noch für einen bestimmten Karrierezweck gemacht, Risiken rationalisiert und Tagesabläufe gleichzeitig optimiert. Und hat man im Juli mal zwei Wochen gar nichts gemacht, dann muss man sich für diese Lücke im Lebenslauf auch noch drei Jahre später beim Vorstellungsgespräch rechtfertigen. Sommer genießen, ein Buch lesen oder einfach mal am Strand rumkullern? Sowas geht ja gar nicht, wo kommen wir denn da hin?
Natürlich ärgere ich mich über die ein bis zwei Semester, die ich länger gebraucht habe als meine Konkurrenten, das aber nicht einmal wegen der Studiengebühren (habe ich durch Nichtkiffen ausgeglichen!), die bisher sträflicherweise als Argument für vieles außen vor gelassen wurden, sondern wegen der Rechtfertigungsspirale bei so ziemlichen allen Personen weltweit. Inklusive mir selbst. Doch das ist wie früher, ich kann mich jetzt ärgern und auch Französisch oder Spanisch hätte mir wesentlich „mehr gebracht“, aber Herr Gott, es kam im Laufe der Zeit eben anders.
Ja ja, die Zeit, sie ist ohnehin endlich, sie ist Geld und man sollte sie jeden Tag nutzen, um tausend tolle Dinge zu machen, um ein besserer Mensch zu werden, um Delfine zu retten. Aber vor allem – und das ist der Punkt – sollte einen die Zeit auch manchmal kreuzweise können! Wie gesagt, die 90er waren echt traumatisch und die 00er-Jahre ebenso und jetzt, 2014, ist auch schon wieder globale Krise an allen Ecken und Fronten: Banken, Rente, Arbeitsmarkt, Klima, EU und NSA. Und vor meiner Zeit war es sehr wahrscheinlich auch nicht besser und wenn ich erst 50 bin … Oh nein, lieber gar nicht erst dran denken! Vielleicht ist die Zeit sogar der größte Diktator, der uns alles befiehlt, dem wir alles unterordnen, der uns täglich ein schlechtes Gewissen macht und dem wir alles opfern: in den jungen Jahren unser Leben für ein paar überengagierte Karriereziele, weil der Arbeitsstatus in Westeuropa bekanntlich Identifikationsmerkmal Nummer eins ist. Und später, dann bekommen wir Panik, weil dieses oder jenes komplett auf der Strecke geblieben ist, auch wenn es monatlich ein fürstliches Gehalt für den Vorstandsposten gibt. Aber Freunde oder Hobbys sind rar geworden, weil die eigentlichen Ziele völlig aus den Augen verloren wurden.
Also einfach mal einen Gang runterschalten.
© Geschrieben im Auftrag von Mit Vergnügen für X Verleih AG